Die große Granatbrosche oder "Unrecht Gut gedeiht nicht" Es handelt hier von einem späten
Teilrückführungsversuch von Eigentum an Nachfahren
einer jüdischen Textilgroßhändlersfamilie aus
München, deren Angehörige in der Nazizeit bis auf eine
Person vernichtet bzw. in den Selbstmord getrieben worden
sind. Die Familie brachte vor der Beschlagnahmungsaktion
am 03.12.1938 einen Teil ihrer Wertgegenstände in
Sicherheit. So gab die Chefin des Unternehmens einen
Überseekoffer zusammen mit weiterem Mobiliar zwischen
1938 und 1941 Bekannten zur vorübergehenden Verwahrung.
Ob diese Vertrauenspersonen den Koffer in den
nachfolgenden Kriegsjahren öffneten und einen Teil der
darin befindlichen Wertgegenstände gegen Lebensmittel,
Holz und Kohle tauschten, um in den Hungerjahren mit
eiskalten Wintern größere Überlebenschancen zu haben,
bleibt ungewiss; auch wenn die für den Koffer
letztendlich Verantwortliche im Frühjahr 2000
behauptete, er sei damals geöffnet worden. Wegen der
drohenden Flächenbombardements auf die Stadt München
wurde der Überseekoffer zusammen mit Mobiliar
rechtzeitig zu einer Bauersfamilie im Tegernseer Tal
ausgelagert; die Dinge sind, wie ein Transportschein
belegt, am 26.8.1949 vom Bahnhof Miesbach nach München
in die Wohnung der Vertrauenspersonen zurückgesandt
worden. Als der Enttäuschte noch Kindergärtler und Volksschüler war, bestaunte er oft und völlig begeistert den vielen glitzernden Schmuck, der in der rechten Hälfte der flachen, aber breiten Schublade einer Kommode im Schlafzimmer der Verantwortlichen aufbewahrt war: Bernsteinkette, große Granatbrosche, Perlenkette, mit Edelsteinen (Türkis, Opal, etc.) bestückte Ringe aller Art, Silbermünzen und letztendlich das Gewürzdöschen, mit dem er am liebsten spielte. Das alles habe die Verantwortliche geerbt, hieß es damals. Er drängelte so lange, bis sie ihm das Döschen eines Tages "schenkte". Sogleich integrierte er es in seine Fossilien- und Mineraliensammlung, die er damals aufzubauen begann; geschützt in einem schwarzen Kästchen hat er es bis heute erhalten.
Der Enttäuschte hat am 22.01.2001 den geleerten Überseekoffer der hierfür zuständigen Einrichtung in München überbracht und durfte am 08.03.2006 mit einer Person sprechen, die mit der Textilhändlersfamilie in einem verwandtschaftlichen Verhältnis steht. Selbstverständlich gab er ihr später das Achatdöschen sowie einige mit Initialen bestickte Textilstücke, die nachweislich von dieser Familie stammten, zurück. Der Enttäuschte hat vorgeschlagen, aus dem Überseekoffer und dem daraus stammenden Achatdöschen, eine schlichte und eingängige Installation zu schaffen:
Interpretation der Komposition: Die in ganz unterschiedlichen Größen
ineinander verschachtelten Leeren der Behältnisse
stellen die vieldimensionalen Vakua zur Schau, in die
Personen jüdischer Abstammung damals mit rohester Gewalt
gedrängt und gestoßen wurden. Konkret bedeutete dies
damals: Keine Bürgerrechte mehr, keine Funktion mehr,
keine Arbeit mehr, kein Handel mehr, keine Achtung mehr,
kein Geld mehr, keine Lebensmittel mehr, keine Wohnung
mehr, kein Ansehen mehr, keine Heimat mehr, kein Eigentum
mehr, keine Freizügigkeit mehr, keine Gerechtigkeit
mehr, keine Ruhe mehr, keine Sicherheit mehr, keine
Geborgenheit mehr, kein Friede mehr, keine Freunde mehr,
keine Verwandten mehr, keine Rückkehr mehr, keine Hilfe
mehr, keine Menschenrechte mehr, kein Lebenssinn mehr,
kein Ausweg mehr, kein Halt mehr, kein Trost mehr, keine
Rettung mehr, keine Familie mehr, keine Hoffnung mehr,
kein friedlicher Lebensabend mehr, keine Privatsphäre
mehr, keine Solidarität mehr, keine Selbstbestimmung
mehr, keine Integration mehr, keine Freiheit mehr, keine
Gnade mehr, kein Brot mehr, kein Wasser mehr, kein Name
mehr, kein Mensch mehr, keine Identität mehr, keine
Persönlichkeit mehr, keine Kleider mehr, kein Platz
mehr, kein Licht mehr, keine Atemluft mehr, kein Atem
mehr, kein Schrei mehr, kein Herzschlag mehr, kein Leben
mehr, kein Körper mehr, kein Grab mehr, keine Erinnerung
mehr, keine Wahrheit mehr, keine Sühne mehr, keine
Tradition mehr, keine Kultur mehr, kein Gott mehr, gar
nichts mehr. All diese Leeren schreien aus den weit
geöffneten Objekten - in namenlosem Entsetzen
aufgerissenen Mündern ähnelnd - still in den
Besucherraum. Der Enttäuschte sieht hier die mehrfach
potenzierte, grausame Wirklichkeit gewordene Situation im
expressionistischen Bild "Der Schrei",
geschaffen 1893 vom norwegischen Künstler Edvard Munch:
eine Person in namenloser Verzweiflung im Angesicht des
Todes, der jenseits einer nahen Brücke über den Rubikon
seiner harrt. Mit anderen Worten: Maximale Existenzangst
und Verzweiflung wegen Deprivatisation, Entwurzelung,
Ausgrenzung, Isolation und omnipräsenter Todesgefahr;
Absturz in "gesetzlich" geschaffene, entgrenzte
Leeren der Wüstereien und tabulae rasae eines
exterminatorischen Antisemitismus (D. J. Goldhagen 1996).
Die leeren Volumina der Behältnisse stehen ausserdem
für den in die Atmosphäre abgegebenen Rauch aus den
Schornsteinen der Krematorien, für die während des
Holocaust entstandenen personellen, kulturellen und
materiellen Verluste und auch für die Hochvakua an
humanitären Werten in der nationalsozialistischen
Weltanschauung. Die Komposition reflektiert auch die vom
Enttäuschten selbst durchlebten Ängste, erzeugt durch
die seelischen Leeren und Abgründe, die sich aus den
zutiefst befremdlichen Handlungen und dem unsittlichen
Verhalten der Verantwortlichen nicht nur im Falle dieses
veruntreuten Eigentums der jüdischen
Textilgroßhändlersfamilie vor ihm auftaten. In seinen verschiedenen Zuständen kann der Überseekoffer mehreres bedeuten: Hoffnung und Kontinuität, Verlust und Trauer sowie Solidarität und Vertrauen: Geschlossen und voll
gepackt Der Überseekoffer ist vom
24.09.2008-30.08.2009 in der temporären Ausstellung
"Stadt ohne Juden - die Nachtseite der Münchner
Stadtgeschichte" in den Ausstellungsräumen des
Jüdischen Museums in der Israelitischen Kultusgemeinde
München zu sehen. Der Dokumentarfilm "Menschliches
Versagen" (gesendet am 24.01.2009 um 21.50 Uhr im
Bayerischen Rundfunk) von Regisseur Dr. Michael Verhoeven
brachte die oben kurz erwähnten historischen
Hintergründe im Detail, die dazu führten, dass solch
ein Koffer gepackt und zur vorübergehenden Verwahrung
anderen Personen anvertraut wurde. Das Hauptproblem bei diesem großen Frevel, der mit der Unterschlagung des Inhaltes des Überseekoffers begangen wurde, sind nicht die moralisch unfassbar schwachen Akteure, die das Unrecht begingen und die, die es nachher noch zurechtlügen wollten, sondern es ist das System, das in den negativen und schädlichen Komponenten seiner Traditionen verharrt, indem es weiterhin untätig bleibt und das absichtlich solche Personen in Amt und Würden belässt. In diesem Zusammenhang ist hier für den Enttäuschten der Genozid an den Europäischen Juden nicht mehr ein abstraktes Geschehen, sondern bekommt einen konkreten und persönlichen, einen dem Enttäuschten sehr nahe gehenden Aspekt: auf der Seite, die den Überseekoffer unterschlug, entstanden zunächst acht Nachfahren, die ihrerseits 14 weitere Nachkommen schufen. Auf der Opferseite hingegen geschah nach A. Heusler und Mitarbeitern (2007: Biographisches Gedenkbuch der Münchner Juden 19331945, Band 2, Seiten 252-255; Hrsg.: Stadtarchiv München) den von den Brüdern Louis und Maximilian P. und ihren Frauen Rosa und Paula gegründeten Familien folgendes: - Louis
(*05.12.1861) gutgehende Weiß- und Wollwaren-Firma, die
er im Jahr 1900 gründete und die er zusammen mit seiner
Frau Rosa und seinen Söhnen Max und Heinrich führte,
wurde im September 1938 arisiert. Louis Bemühungen um
eine Emigrationsmöglichkeit seiner Familie blieben
erfolglos. Er wurde mit 81 Jahren am 10.07.1942 nach
Theresienstadt deportiert und dort am 20.11.1942
ermordet. Seine Frau Rosa (*18.02.1874)
starb am 17.03.1941 mit 67 Jahren in München an
gebrochenem Herzen. Der älteste Sohn von Rosa und Louis
P., Heinrich (*13.03.1895), der von
1914-1918 sein Vaterland verteidigte, wurde mit seiner
Frau Johanna (*06.08.1906) am 20.11.1941
in das litauische Kaunas deportiert, wo sie am 25.11.1941
dort im Fort IX erschossen wurden. Dem jüngeren Sohn Max
(*21.10.1898) gelang im August 1940 die Ausreise nach
Milwaukee (USA), wo sich seine Spur verlor. Tochter Sophie
(*17.08.1905), Diplomingenieurin und Doktor (Titel ihrer
Dissertation: Über Pilzcerebrin) im Fach Chemie, nahm
sich wegen der Repressalien und den "Nürnberger
Gesetzen" am 23.12.1936 das Leben. Es sind die am Rande
erwähnten Details, die den aufmerksamen und empfindsamen
Leser verletzen und aufwühlen: Und da sammelt sie sich
beim Enttäuschten wieder, diese ohnmächtige,
allumfassende Wut und der Zorn und der (entschuldbare)
Haß der ganzen Welt auf das, was ein Großteil der
Eltern- und Großelterngenerationen mit diesem
Massenraubmord erzeugt hat: endlose, unendlich große
Schuld: ein irreparables und unlösbares Problem, für
das es bis ans Ende aller Tage keine Lösung geben kann.
Denn schon alleine die Katastrophe eines Schicksals - ein
einzelner, gewaltsamer Tod - von sechs Millionen
Beraubten, in den Selbstmord Getriebenen, Erschlagenen,
zu Tode Gefolterten, Verhungerten, Erfrorenen, durch
Zwangsarbeit zu Tode Gebrachten, zu Tode Gehetzten,
Erschossenen, Erhängten, durch Menschenexperimente
Ermordeten, Verbrannten und Vergasten ist unbegreiflich. Was
soll denn da nachher noch ein "um Verzeihung"
oder "um Vergebung bitten", ein "sich
entschuldigen", ein "Wiedergutmachen
wollen" oder "ein auf die Knie fallen".
Freilich fand der Enttäuschte Willy Brandts Geste am
Warschauer Mahnmal großartig, beeindruckend schön und
ein klein wenig befreiend; aber letztendlich war es viel
zu wenig. Der Enttäuschte meint, alle bisherigen
diesbezüglichen Handlungen (Gedenklesungen, -feiern,
-stunden), Einrichtungen (Gedenkstätten, Mahnmale),
Medienaktivitäten (Gedenkbücher, Film-, Fernseh-,
Radiodokumentationen) und Beteuerungen (Nie wieder!
Wehret den Anfängen!) sind angesichts der Dimensionen
des Geschehenen zu gering, und das wird zweifellos immer
so bleiben. Aber sicher wird die Situation durch
Erinnerungsarbeit und -kultur erträglicher, als wenn man
nichts täte. Die Shoah bleibt unverzeihbar, nicht
entschuldbar und schon gar nicht wiedergutmachbar. Und es
ist gut so, dass diese Art von Schuld nicht gelöscht
werden kann. Wo Massenraubmord und Genozid waren, wird es
nie einen Schlußstrich geben. Der Enttäuschte bedauert sehr, dass
offensichtlich bis heute niemand aus seiner eigenen
Eltern- und Großelterngenerationen den überlebenden
Opfern und ihren Nachkommen ein Minimum an Mitgefühl
entgegenbrachte: ihnen wenigstens sagte, dass es ihm/ihr
leid tue, was damals geschah. Die Leser mögen bitte das, was der Enttäuschte oben über die Verantwortliche und Gleichgesinnte darlegte, nicht als Übertreibung oder Hetze ansehen. Seine Erinnerungen schrieb er nach bestem Wissen und Gewissen und beeidet sie hiermit; Erinnerungstäuschungen können jedoch nicht ausgeschlossen werden. Fest steht: hier ist aus den profanen Beweggründen Habgier, Geiz und Neid viel zu viel Unrecht entstanden, das nicht mehr verschwiegen werden kann, ohne sich selbst der schweren Unterlassung schuldig zu machen. Eingedenk der ganz besonderen Verantwortung, die der Enttäuschte wegen der Geschehnisse in der deutsch-jüdischen Vergangenheit hat, entschloss er sich, dieses massive Versagen und seine Folgen zu veröffentlichen, damit daraus gelernt werden kann und sich somit die Wahrscheinlichkeit verringert, dass Entsprechendes noch einmal geschieht. Der Enttäuschte tat hiermit alles, damit auf solche Art erworbenes unrechtes Gut nicht gedeihen kann; er hofft, dass sich möglichst viele Leser, die vor einer ähnlichen Situation stehen, dazu durchringen werden, ebenso zu handeln wie der Enttäuschte und alles zurückbringen. Denn es darf nicht sein, dass der Überseekoffer ein ganz seltenes Beispiel jüdischen Eigentums bleibt, das in München nach 1945 rückgeführt worden ist an die rechtmäßigen Erben. Die Leserschaft möge diese Ausführungen als Beitrag zur Versöhnung zwischen dem jüdischen und dem deutschen Volk sehen. Die Motive für die hier geäusserte
Haltung des Enttäuschten sind die ewigen Themen
Gerechtigkeit und Fairness, ohne deren Verwirklichung es
kein friedliches Beisammensein geben kann. Es war
zutiefst verwerflich, dass die Verantwortliche das
verwaiste Eigentum der Tuchhändlersfamilie nicht
freiwillig der 1947 wiedergegründeten Israelitischen
Kultusgemeinde zu München überbracht hat. Das
unterschlagene Gut muß den Eigentümern, deren Erben
oder - wenn es keine mehr gibt - der Gemeinde
zurückgegeben werden; erst dann besteht Aussicht auf
Frieden. Und je länger die Rückgabe hinausgezögert
wird, desto problematischer wird die Situation. Die
gleichgültige und träge Haltung Wer ko, der ko -
wer schiaßt, der schiaßt - wer rafft, der rafft -
und - wer hat, der hat -, ist unerträglich
töricht. Ein weiteres Motiv des Enttäuschten ist
Empathie und die damit verbundene tiefe Solidarität mit
Übergangenen, Benachteiligten, Beraubten und Ermordeten.
Der Enttäuschte kann aus seiner Lebenserfahrung und von
seinen Anlagen her verstehen und nachempfinden, was
diesen Menschen damals Entsetzliches angetan wurde: denn
er war in seiner Kindheit und Jugend zutiefst
verunsicherter Aussenseiter und Prügelknabe und weiß,
was es heißt, gemobbt, gehänselt, geschlagen,
schikaniert und ausgegrenzt zu werden und immer die Tür
gewiesen zu bekommen. Mehr.
Er weiß, was es heißt, wenn einem etwas vorenthalten
und genommen worden ist und wenn man nicht dabeisein
darf. Er hat erfahren, was es heißt, wenn man nicht mehr
weiß, wo es nach Hause geht und wenn man, sei es auch
nur in Gedanken, weit draussen vor der Tür in einen
schwarzen ewigen Abgrund stürzt. Und er meint, sich auch
das vorstellen zu können, wie es ist, wenn man nackt an
der Schwarzen Wand steht. Freilich ist sich der
Enttäuschte darüber vollkommen im Klaren, dass er nur
den Grundformen des Ausgegrenzt- und Verfolgtwerdens
ausgesetzt war. online seit 01.05.2006; letzte
Nachträge/Korrekturen 09.06.2009. |