Die große Granatbrosche
oder
"Unrecht Gut
gedeiht nicht"
Es handelt hier von einem späten
Teilrückführungsversuch von Eigentum an Nachfahren
einer jüdischen Textilgroßhändlersfamilie aus
München, deren Angehörige in der Nazizeit bis auf eine
Person vernichtet bzw. in den Selbstmord getrieben worden
sind. Die Familie brachte vor der Beschlagnahmungsaktion
am 03.12.1938 einen Teil ihrer Wertgegenstände in
Sicherheit. So gab die Chefin des Unternehmens einen
Überseekoffer zusammen mit weiterem Mobiliar zwischen
1938 und 1941 Bekannten zur vorübergehenden Verwahrung.
Ob diese Vertrauenspersonen den Koffer in den
nachfolgenden Kriegsjahren öffneten und einen Teil der
darin befindlichen Wertgegenstände gegen Lebensmittel,
Holz und Kohle tauschten, um in den Hungerjahren mit
eiskalten Wintern größere Überlebenschancen zu haben,
bleibt ungewiss; auch wenn die für den Koffer
letztendlich Verantwortliche im Frühjahr 2000
behauptete, er sei damals geöffnet worden. Wegen der
drohenden Flächenbombardements auf die Stadt München
wurde der Überseekoffer zusammen mit Mobiliar
rechtzeitig zu einer Bauersfamilie im Tegernseer Tal
ausgelagert; die Dinge sind, wie ein Transportschein
belegt, am 26.8.1949 vom Bahnhof Miesbach nach München
in die Wohnung der Vertrauenspersonen zurückgesandt
worden.
Unbegreiflich bleibt, dass nach Kriegsende die
Vertrauenspersonen nicht sorgfältig und ausdauernd nach
Überlebenden bzw. Erben dieser jüdischen Familie
suchten und sie kontaktierten. Ein Blick damals ins neue
örtliche Telefonbuch, das die Anschriften und Rufnummern
jüdischer Familien wieder enthielt, hätte bereits für
Klarheit gesorgt. In Zweifelsfällen hätte auch die
bereits 1947 wiedergegründete Israelitische Gemeinde
München zu Rate gezogen werden können, was mit dem
Überseekoffer zu geschehen habe.
Letztendlich geriet der Überseekoffer zusammen mit dem
Mobiliar in den Besitz der letztendlich verantwortlichen
Person; ersteren lagerte sie im Speicher eines 1961
erstellten Wohnhauses in einer oberbayerischen
Kleinstadt; letzteres nutzte sie als Ergänzung der
Wohnzimmergarnitur desselben.
Der Enttäuschte erinnert sich, als Volksschüler
zusammen mit anderen Kindern in diesem Speicher gespielt
zu haben und über den großen Überseekoffer
(Mädler-Koffer mit den Maßen 145cm x 85cm x 85cm)
geturnt zu sein. Neben diesem fand er damals
Erstaunliches auf dem Boden liegen: Mehrere Zentimeter
dicke Geldpapier-Bündel, auf denen riesige Summen in
Reichsmark-Währung aufgedruckt waren und hunderte von
Aktien- Dokumenten der Firma "Vesuvio". Das
Firmenemblem - ganz in der Aufbruchstimmung des
Industriezeitalters gehalten - hat ihn damals nachhaltig
beeindruckt: Ein Industriegelände vor dem alles
überragenden Strahlenkranz einer aufgehenden Sonne.
Wegen der Währungsreform seien all die Papiere wertlos
geworden, hieß es damals. Ein in der ersten Hälfte der
neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts erfolgter
Umbau des Speichers in eine Dachgeschoßwohnung war
Anlaß, den Überseekoffer zusammen mit anderen
Behältnissen in einen Geräteschuppen zu tragen; bei
dieser Aktion war der Enttäuschte nicht zugegen.

Es war die Verantwortliche selbst, die dem Enttäuschten
im Frühjahr 2000 im Geräteschuppen offenbarte, wem der
große Überseekoffer dort drinnen gehörte und es nun an
der Zeit sei, ihn zu öffnen. Der Enttäuschte sorgte
dafür, dass dies nicht geschah. Da es ihm wenig später
gelang, den Koffer mit einem Arm an einem seiner
Ledergriffe vom Boden hochzuheben, wusste er, dass dieser
ohnehin schon geleert war. Dies äußerte der
Enttäuschte auch der Verantwortlichen gegenüber; er
erhielt aber darauf keine Antwort von ihr. Wenig später
begann er ungute Ahnungen zu hegen dahingehend, dass ein
Teil des Inhaltes des Überseekoffers in den Haushalt der
Verantwortlichen übergegangen sein könnte, den auch der
Enttäuschte gut kannte. Dieses Gefühl konkretisierte
sich bald: in der Tat erinnerte er sich an mehrere
Utensilien aus dem Haushalt der Verantwortlichen, die nur
daraus stammen konnten: u. a. die stilvollen Zucker- und
Salzdosen aus Zinn, der Messing-Untersatz mit dem
Menora-Symbol, die nur zu feierlichen Anlässen
verwendete, mit feinen Gravuren verzierte Dochtschere
sowie das Gewürzdöschen aus poliertem Bänderachat und
fein geschmiedetem Messing:
Als der Enttäuschte noch Kindergärtler und
Volksschüler war, bestaunte er oft und völlig
begeistert den vielen glitzernden Schmuck, der in der
rechten Hälfte der flachen, aber breiten Schublade einer
Kommode im Schlafzimmer der Verantwortlichen aufbewahrt
war: Bernsteinkette, große Granatbrosche, Perlenkette,
mit Edelsteinen (Türkis, Opal, etc.) bestückte Ringe
aller Art, Silbermünzen und letztendlich das
Gewürzdöschen, mit dem er am liebsten spielte. Das
alles habe die Verantwortliche geerbt, hieß es damals.
Er drängelte so lange, bis sie ihm das Döschen eines
Tages "schenkte". Sogleich integrierte er es in
seine Fossilien- und Mineraliensammlung, die er damals
aufzubauen begann; geschützt in einem schwarzen
Kästchen hat er es bis heute erhalten.
Inzwischen hegt der Enttäuschte keinen Zweifel mehr
daran, dass die große Menge an Schmuck sich im
Überseekoffer befand und zusammen mit dem restlichen
Inhalt von der Verantwortlichen unterschlagen wurde. Es
ist sehr unwahrscheinlich, dass der Schmuck von den
Vorfahren der Verantwortlichen stammte: Denn diese
führten in einer Kleinstadt ein mittelständisches
Bekleidungs- und Stoffwarengeschäft, mit dem keinesfalls
so viel Gewinn für solch eine große Menge an teurem
Schmuck hätte erwirtschaftet werden können. Die
Münchner Textilgroßhändlersfamilie aber könnte diese
Ressourcen gehabt haben: ihr Jahresumsatz belief sich
1937 auf ca. 840.000 Reichsmark und sie belieferte neben
vielen anderen mittelständischen Betrieben auch den der
Vorfahren der Verantwortlichen. Vielleicht ist mit dem
Erlös aus einigen Preziosen aus dem Überseekoffer ein
Teil der Baukosten von oben genanntem Wohnhaus beglichen
worden. Somit wird auch besser verständlich, wie es
finanziell machbar war, dass schon wenige Jahre nach
Bezug des neugebauten Wohnhauses eine große Familie mit
vier Kindern problemlos versorgt, ein Auto gekauft, ein
Klavier angeschafft, privater Musikunterricht finanziert
und in Serie zweiwöchiger Osterskiurlaub samt Kindern im
Südtiroler Grödnertal gemacht werden konnte, obwohl der
alleinverdienende Ehemann der Verantwortlichen damals
erst am Anfang einer mittleren Beamtenlaufbahn stand.
Nun verstand der Enttäuschte endlich nach Jahren die
Bemerkung einer verwandten Person, die ca. 1953
ausgewandert war und bei einem Besuch sinngemäß
folgendes zu ihm sagte: "Ja, das war wohl ein hartes
Stück Arbeit, bis wir unser Eigenheim zusammengespart
hatten; denn bei uns gab es keinen Koffer, den man nur zu
öffnen brauchte und wo dann das ganze Geld drinnen
war".
Es war an einem Spätsommerabend Ende September 1999 im
Bürgersaal einer oberbayerischen Gemeinde, als der
Enttäuschte die im vorletzten Absatz erwähnte
Granatbrosche nach langer Zeit wieder erblickte: geheftet
an die weiße Bluse der Verantwortlichen, als sie die
Bürgermedaille für ihre Tätigkeit im Gemeinderat
verliehen bekam. Solche Ehrungen werden nur dann
vergeben, wenn man vorab versicherte, dass man sich stets
ehrenhaft verhalten hat und man diese Art der
Lebensführung fortsetzen will.
Es war im Frühjahr 2000, als die Verantwortliche dem
Enttäuschten und seiner Frau eine ältere Ausgabe eines
Wilhelm Busch-Albums zeigte mit einer Widmung an die
Tochter der Textilgroßhändlersfamilie: auf einer der
ersten Seiten des Buches stand handschriftlich folgendes:
"Die heitere Lebensauffassung in diesem Buche
mögen Dich bei Deinem Tun und Denken begleiten. Dies
wünscht Dir anlässlich ihres 60. Geburtstages Deine
Mutter. 18.02.1934." Wie selbstverständlich
stellte die Verantwortliche das Buch wieder ins Regal
zurück. Die Frage, ob sie noch mehr persönliche
Dokumente von dieser Familie habe, verneinte sie
auffallend heftig.
Es ereignete sich im Frühjahr 2000, als der Ehemann der
Verantwortlichen selbige anschrie, sie solle nun endlich
aufhören mit dieser alten Geschichte von der
Tuchhändlersfamilie, die heute doch niemanden mehr
interessiere.
Es war im Sommer 2001, als eine Tochter der
Verantwortlichen den Enttäuschten spitz fragte, ob ihm
wegen Recherchen in dieser Richtung denn nicht schon bald
die "braune Soße" zu den Ohren herausliefe.
Es war Anfang März 2003, als ein Sohn der
Verantwortlichen lapidar feststellte, es sei doch
"... völlig wurscht, woher des Zeigl nacha kimmt,
wos'd hosd."
Und es war nur ein paar Tage später, als der Erbsohn der
Verantwortlichen - seines Zeichens 1,1er-Abiturient und
ewige Intelligenzhoffnung - den Enttäuschten belehren
wollte, dass man sich nur um sein eigenes Sach zu
kümmern brauche und um sonst gar nichts.
Wie unter Zwang erzählte die Verantwortliche immer
wieder vom Schicksal der Münchner Tuchhändlersfamilie
und der großen Barock-Kommode (Maße ca. 1,7m x 1,2m x
1,2m), die ihr damals die Chefin des Unternehmens
"vererbt" haben soll. Letzteres ist sehr
unwahrscheinlich, denn in den maßgeblichen Jahren kannte
die Verantwortliche (*1933) diese Tuchhändlersfamilie
erst wenige Jahre; und es ist selbstverständlich, dass
nach der Nazidiktatur die Kinder dieser
Tuchhändlersfamilie zusammen mit ihren Eltern wieder
eine neue Existenz gründen wollten.
Was für den Enttäuschten noch nicht zur Gänze
verständlich ist: Warum hat die Verantwortliche den
geleerten Koffer nicht in aller Stille entsorgt? Warum
war die Verantwortliche so leichtsinnig, immer wieder
Geschichten zu erzählen, deren Verläufe sie in einem
schlechten Licht erscheinen ließen: was trieb sie dazu,
dem Enttäuschten im Frühjahr 2000 zu gestehen, wer
Eigentümer des im Geräteschuppen gelagerten
Überseekoffers ist? Hätte sie geschwiegen, wüsste der
Enttäuschte rein gar nichts über das große Problem
seiner Herkunft. Oder sah sie die fremden Gegenstände
als Trophäen an, von denen sie wegen ihres auffälligen
Geltungsdranges immer wieder erzählen musste? Oder
könnte es der Druck auf die Verantwortliche gewesen
sein, der von dem nur wenige Monate vorher
stattgefundenen Ereignis am selben Ort nachwirkte: am
19.12.1999 stellte der Enttäuschte fest, dass die
Verantwortlichen eine Goldkopie des Regensburger Codex
Aureus - Eigentum der Bayerischen Staatsbibliothek
München - fast 20 Jahre lang ungeschützt in diesem
Geräteschuppen haben liegen lassen; dieses Geschehen
kann im Detail hier
nachgelesen werden. Wie dem auch sei: die Verantwortliche
hat sich selbst gravierende moralische und
eigentumsrechtliche Probleme geschaffen und für ihre
Verbreitung selbst gesorgt; gleichzeitig hat sie dem
Enttäuschten ein weiteres unlösbares Problem
aufgeladen, das für ihn nichts anderes bedeutet als noch
mehr Endlichkeit.
Der Enttäuschte hat am 22.01.2001 den
geleerten Überseekoffer der hierfür zuständigen
Einrichtung in München überbracht und durfte am
08.03.2006 mit einer Person sprechen, die mit der
Textilhändlersfamilie in einem verwandtschaftlichen
Verhältnis steht. Selbstverständlich gab er ihr später
das Achatdöschen sowie einige mit Initialen bestickte
Textilstücke, die nachweislich von dieser Familie
stammten, zurück.
Der Enttäuschte hat vorgeschlagen, aus
dem Überseekoffer und dem daraus stammenden
Achatdöschen, eine schlichte und eingängige
Installation zu schaffen:
Der leere Überseekoffer ist mit
weit geöffneter Seite zu den Museums-Besuchern
gerichtet und sperrt so sein Maul auf, auf dass
er wieder gefüllt werde mit all dem, was 1938 in
größter Not in ihm verstaut wurde;
vor dem leeren Volumen des
Überseekoffers steht ein kleiner Klappstuhl von
ca. 40 cm Höhe, auf dem sich das
geöffnete, schwarze Kästchen befindet, in dem
das Gewürzdöschen aus Achat aufbewahrt worden
ist;
im geöffneten Kästchen steht
das - wiederum geöffnete - leere Achatdöschen;
Interpretation der Komposition: Die in ganz unterschiedlichen Größen
ineinander verschachtelten Leeren der Behältnisse
stellen die vieldimensionalen Vakua zur Schau, in die
Personen jüdischer Abstammung damals mit rohester Gewalt
gedrängt und gestoßen wurden. Konkret bedeutete dies
damals: Keine Bürgerrechte mehr, keine Funktion mehr,
keine Arbeit mehr, kein Handel mehr, keine Achtung mehr,
kein Geld mehr, keine Lebensmittel mehr, keine Wohnung
mehr, kein Ansehen mehr, keine Heimat mehr, kein Eigentum
mehr, keine Freizügigkeit mehr, keine Gerechtigkeit
mehr, keine Ruhe mehr, keine Sicherheit mehr, keine
Geborgenheit mehr, kein Friede mehr, keine Freunde mehr,
keine Verwandten mehr, keine Rückkehr mehr, keine Hilfe
mehr, keine Menschenrechte mehr, kein Lebenssinn mehr,
kein Ausweg mehr, kein Halt mehr, kein Trost mehr, keine
Rettung mehr, keine Familie mehr, keine Hoffnung mehr,
kein friedlicher Lebensabend mehr, keine Privatsphäre
mehr, keine Solidarität mehr, keine Selbstbestimmung
mehr, keine Integration mehr, keine Freiheit mehr, keine
Gnade mehr, kein Brot mehr, kein Wasser mehr, kein Name
mehr, kein Mensch mehr, keine Identität mehr, keine
Persönlichkeit mehr, keine Kleider mehr, kein Platz
mehr, kein Licht mehr, keine Atemluft mehr, kein Atem
mehr, kein Schrei mehr, kein Herzschlag mehr, kein Leben
mehr, kein Körper mehr, kein Grab mehr, keine Erinnerung
mehr, keine Wahrheit mehr, keine Sühne mehr, keine
Tradition mehr, keine Kultur mehr, kein Gott mehr, gar
nichts mehr. All diese Leeren schreien aus den weit
geöffneten Objekten - in namenlosem Entsetzen
aufgerissenen Mündern ähnelnd - still in den
Besucherraum. Der Enttäuschte sieht hier die mehrfach
potenzierte, grausame Wirklichkeit gewordene Situation im
expressionistischen Bild "Der Schrei",
geschaffen 1893 vom norwegischen Künstler Edvard Munch:
eine Person in namenloser Verzweiflung im Angesicht des
Todes, der jenseits einer nahen Brücke über den Rubikon
seiner harrt. Mit anderen Worten: Maximale Existenzangst
und Verzweiflung wegen Deprivatisation, Entwurzelung,
Ausgrenzung, Isolation und omnipräsenter Todesgefahr;
Absturz in "gesetzlich" geschaffene, entgrenzte
Leeren der Wüstereien und tabulae rasae eines
exterminatorischen Antisemitismus (D. J. Goldhagen 1996).
Die leeren Volumina der Behältnisse stehen ausserdem
für den in die Atmosphäre abgegebenen Rauch aus den
Schornsteinen der Krematorien, für die während des
Holocaust entstandenen personellen, kulturellen und
materiellen Verluste und auch für die Hochvakua an
humanitären Werten in der nationalsozialistischen
Weltanschauung. Die Komposition reflektiert auch die vom
Enttäuschten selbst durchlebten Ängste, erzeugt durch
die seelischen Leeren und Abgründe, die sich aus den
zutiefst befremdlichen Handlungen und dem unsittlichen
Verhalten der Verantwortlichen nicht nur im Falle dieses
veruntreuten Eigentums der jüdischen
Textilgroßhändlersfamilie vor ihm auftaten.
Sensiblen Museumsbesuchern wird an Hand dieser
Komposition - eine spezielle Darstellung des horror
vacui - eindringlichst vermittelt, welche Folgen
dieser "legalisierte" Raubzug für Münchner
Bürger jüdischer Abstammung in der ehemaligen
"Hauptstadt der Bewegung" hatte. Nachgewiesen
ist nun auch, dass durch Unterlassung und Vertrauensbruch
auch nach dem 8.5.1945 jüdisches Eigentum
"arisiert" worden ist.
In seinen verschiedenen
Zuständen kann der Überseekoffer mehreres bedeuten:
Hoffnung und Kontinuität, Verlust und Trauer sowie
Solidarität und Vertrauen:
Geschlossen und voll
gepackt
ist der Überseekoffer ein markantes Zeichen der
Hoffnung, der Kontinuität und des Vertrauens, worin die
Geschädigten zu ihren Lebzeiten festhielten. Er steht
für ihren Glauben an ein besseres Leben in Deutschland
nach der Zeit der Verfolgung und Diktatur und für ihr
großes Vertrauen in die Personen, denen sie ihr
wertvollstes Hab und Gut anvertrauten. Er steht somit
auch für die Hoffnung, dass das Gute im Menschen sich
dauerhaft durchsetzen möge.
Verwaist, gestrandet, offen und leer geplündert
steht er für das Leid der gewaltsam Verstorbenen und die
mentalen Traumata der Geschädigten und des
Enttäuschten, die in den Ereignissen zwischen 1933 und
1945 ihren Ursprung hatten. Er symbolisiert die damit
zusammenhängenden Beeinträchtigungen, Enttäuschungen,
Ängste, Vertrauensdefizite und seelischen Belastungen.
Auf der Opferseite sind es vor allem die personellen und
materiellen Verluste; auf Seite des Enttäuschten das
bleierne Bewußtsein über das humanitäre Versagen sowie
die sozialen und kulturellen Defekte eines Großteils der
deutschen Eltern- und Großeltern-Generationenen, der
unendliche Schuld auf sich lud und das ehemalige Land der
Dichter und Denker bis in alle Zeiten mit Schande und
Scham überhäufte.
Geschlossen zurückgebracht
steht der Überseekoffer - auch wenn er leider leer ist -
für Solidarität mit einer kulturellen Minderheit in
Deutschland, wodurch Vertrauen gefördert und Hoffnung
auf Versöhnung geweckt wird.
Der Überseekoffer ist vom
24.09.2008-30.08.2009 in der temporären Ausstellung
"Stadt ohne Juden - die Nachtseite der Münchner
Stadtgeschichte" in den Ausstellungsräumen des
Jüdischen Museums in der Israelitischen Kultusgemeinde
München zu sehen. Der Dokumentarfilm "Menschliches
Versagen" (gesendet am 24.01.2009 um 21.50 Uhr im
Bayerischen Rundfunk) von Regisseur Dr. Michael Verhoeven
brachte die oben kurz erwähnten historischen
Hintergründe im Detail, die dazu führten, dass solch
ein Koffer gepackt und zur vorübergehenden Verwahrung
anderen Personen anvertraut wurde.
Nach schriftlicher Angabe der Verantwortlichen vom
17.12.2006 befanden sich im Überseekoffer nichts weiter
als schwarze Trauerkleider. Eine katholisch getaufte
Tochter (*1959) der Verantwortlichen behauptete, dass aus
diesem schwarzen Stoff ein Firmungskleid für sie genäht
worden sei.
Eine mit der jüdischen Tuchhändlersfamilie verwandte
Person fragte bei der Verantwortlichen an, ob es denn
möglich sei, die Kommode wenigstens einmal zu sehen. Da
beschied ihr die Verantwortliche, dass dies erst dann
geschehen könne, wenn sie sich bei ihr ausgewiesen habe.
Das Hauptproblem bei diesem großen
Frevel, der mit der Unterschlagung des Inhaltes des
Überseekoffers begangen wurde, sind nicht die moralisch
unfassbar schwachen Akteure, die das Unrecht begingen und
die, die es nachher noch zurechtlügen wollten, sondern
es ist das System, das in den negativen und schädlichen
Komponenten seiner Traditionen verharrt, indem es
weiterhin untätig bleibt und das absichtlich solche
Personen in Amt und Würden belässt.
In diesem Zusammenhang ist
hier für den Enttäuschten der Genozid an den
Europäischen Juden nicht mehr ein abstraktes Geschehen,
sondern bekommt einen konkreten und persönlichen, einen
dem Enttäuschten sehr nahe gehenden Aspekt: auf der
Seite, die den Überseekoffer unterschlug, entstanden
zunächst acht Nachfahren, die ihrerseits 14 weitere
Nachkommen schufen. Auf der Opferseite hingegen geschah
nach A. Heusler und Mitarbeitern (2007: Biographisches
Gedenkbuch der Münchner Juden 19331945,
Band 2, Seiten 252-255; Hrsg.:
Stadtarchiv München) den von den Brüdern Louis und
Maximilian P. und ihren Frauen Rosa und Paula
gegründeten Familien folgendes:
- Louis
(*05.12.1861) gutgehende Weiß- und Wollwaren-Firma, die
er im Jahr 1900 gründete und die er zusammen mit seiner
Frau Rosa und seinen Söhnen Max und Heinrich führte,
wurde im September 1938 arisiert. Louis Bemühungen um
eine Emigrationsmöglichkeit seiner Familie blieben
erfolglos. Er wurde mit 81 Jahren am 10.07.1942 nach
Theresienstadt deportiert und dort am 20.11.1942
ermordet. Seine Frau Rosa (*18.02.1874)
starb am 17.03.1941 mit 67 Jahren in München an
gebrochenem Herzen. Der älteste Sohn von Rosa und Louis
P., Heinrich (*13.03.1895), der von
1914-1918 sein Vaterland verteidigte, wurde mit seiner
Frau Johanna (*06.08.1906) am 20.11.1941
in das litauische Kaunas deportiert, wo sie am 25.11.1941
dort im Fort IX erschossen wurden. Dem jüngeren Sohn Max
(*21.10.1898) gelang im August 1940 die Ausreise nach
Milwaukee (USA), wo sich seine Spur verlor. Tochter Sophie
(*17.08.1905), Diplomingenieurin und Doktor (Titel ihrer
Dissertation: Über Pilzcerebrin) im Fach Chemie, nahm
sich wegen der Repressalien und den "Nürnberger
Gesetzen" am 23.12.1936 das Leben.
- Maximilian (*28.06.1865), Doktor der
Humanmedizin, Internist und Sanitätsrat, beging im
Verlauf einer behördlichen Vernehmung am 21.03.1942
Suizid. Seine Ehefrau Paula überlebte
das KZ Theresienstadt, in das sie mit 65 Jahren am
10.07.1942 deportiert wurde. Sie kam am 11.07.1945 nach
München zurück und starb am 31.01.1954. Maximilians und
Paulas einziger Sohn Rudolf Siegfried
(*21.09.1898), Doktor der Humanmedizin und Internist,
hatte vor Inkrafttreten der "Nürnberger
Gesetze" eine Nichtjüdin geheiratet. Er überlebte
in München und starb dort am 09.12.1972. Der vier
Absätze weiter oben genannte Abkömmling entstammt
dieser Ehe und ist jüngster Vertreter der Linie P.
Es sind die am Rande
erwähnten Details, die den aufmerksamen und empfindsamen
Leser verletzen und aufwühlen:
- Sophie war mit der Mutter der Verantwortlichen
befreundet und unternahm mit ihr Berg- und Skitouren in
den Allgäuer Bergen;
- Sophies Mutter Rosa schob der später für den Koffer
verantwortlich gewordenen Tochter ihrer Vertrauensperson
regelmäßig ein 2-Reichsmarkstück unter dem
Kuchenteller, wenn sie zu Besuch bei ihnen weilte;
- Louis kam ein letztes mal in der Nacht vor seiner
Deportation nach Theresienstadt zu den Vertrauenspersonen
in ihre Wohnung. Auf den Rat der Vertrauensleute, er
solle unbedingt doppelte Wäsche anlegen, meinte er nur
unendlich traurig, dass er die wohl nicht mehr brauche
(zitiert nach einem Schreiben der Verantwortlichen vom
17.12.2006). Er wurde aus der Wohnung fortgeschickt, der
Überseekoffel aber blieb. Mit Courage, Geschick und den
Ressourcen aus dem Überseekoffer hätte er gerettet
werden können.
Und da sammelt sie sich
beim Enttäuschten wieder, diese ohnmächtige,
allumfassende Wut und der Zorn und der (entschuldbare)
Haß der ganzen Welt auf das, was ein Großteil der
Eltern- und Großelterngenerationen mit diesem
Massenraubmord erzeugt hat: endlose, unendlich große
Schuld: ein irreparables und unlösbares Problem, für
das es bis ans Ende aller Tage keine Lösung geben kann.
Denn schon alleine die Katastrophe eines Schicksals - ein
einzelner, gewaltsamer Tod - von sechs Millionen
Beraubten, in den Selbstmord Getriebenen, Erschlagenen,
zu Tode Gefolterten, Verhungerten, Erfrorenen, durch
Zwangsarbeit zu Tode Gebrachten, zu Tode Gehetzten,
Erschossenen, Erhängten, durch Menschenexperimente
Ermordeten, Verbrannten und Vergasten ist unbegreiflich. Was
soll denn da nachher noch ein "um Verzeihung"
oder "um Vergebung bitten", ein "sich
entschuldigen", ein "Wiedergutmachen
wollen" oder "ein auf die Knie fallen".
Freilich fand der Enttäuschte Willy Brandts Geste am
Warschauer Mahnmal großartig, beeindruckend schön und
ein klein wenig befreiend; aber letztendlich war es viel
zu wenig. Der Enttäuschte meint, alle bisherigen
diesbezüglichen Handlungen (Gedenklesungen, -feiern,
-stunden), Einrichtungen (Gedenkstätten, Mahnmale),
Medienaktivitäten (Gedenkbücher, Film-, Fernseh-,
Radiodokumentationen) und Beteuerungen (Nie wieder!
Wehret den Anfängen!) sind angesichts der Dimensionen
des Geschehenen zu gering, und das wird zweifellos immer
so bleiben. Aber sicher wird die Situation durch
Erinnerungsarbeit und -kultur erträglicher, als wenn man
nichts täte. Die Shoah bleibt unverzeihbar, nicht
entschuldbar und schon gar nicht wiedergutmachbar. Und es
ist gut so, dass diese Art von Schuld nicht gelöscht
werden kann. Wo Massenraubmord und Genozid waren, wird es
nie einen Schlußstrich geben.
Das Vergangene ist nicht tot; es ist immer lebendig
(sinngemäß zitiert nach William Faulkner).
So viel potentielles Leben, das nie werden durfte; das
ist wirklich unfassbar; und genauso unfassbar groß ist
die Verantwortung, die daraus entstand. Es bedrückt und
beschämt, dass triviales, unbeschwertes, leichtes,
schönes und bequemes Leben während und nach dieser
Katastrophe weiterging und es ist unerträglich, dass es
immer noch Menschen gibt, welche diese Katastrophe
leugnen. Es schwächt ungeheuer, von all diesen
Grausamkeiten zu wissen, zu denen der Mensch im Verlauf
seiner Geschichte fähig war. Wie unendlich schade das
ist, was er da getan hat. Und es graut vor der
Vorstellung, was er da noch alles draufsetzen wird.
Der Enttäuschte bedauert sehr, dass
offensichtlich bis heute niemand aus seiner eigenen
Eltern- und Großelterngenerationen den überlebenden
Opfern und ihren Nachkommen ein Minimum an Mitgefühl
entgegenbrachte: ihnen wenigstens sagte, dass es ihm/ihr
leid tue, was damals geschah.
Der Enttäuschte überlegte lange, wie er die Trauer, die
Enttäuschung und den Zorn auf Seiten der Opfer mindern
könne; wie er Sie trösten könne. Aber das, worauf er
zunächst kam, war nur, ihnen mitzuteilen, dass er fast
all das Leid nachempfinden kann, was ihnen angetan wurde;
und dass ihm das nahegeht, es ihm leid tut, er all das
tief bedauert, es ihn traurig macht und beschämt. Das
Leid der Opfer und deren Nachkommen ist zudem auch sein
Leid, das ist ganz sicher.
Die seineserachtens supreme Idee kam erst später und
allmählich: Es ist die Balkenwaage, die hier mit Gewalt
vollkommen aus dem Lot gebracht worden ist. Was gäbe es
für den Enttäuschten nun Näherliegendes, als auf der
Seite der Nachkommen der Täter sein eigenes Leben in die
noch fast leere Waagschale zu werfen: d. h. spätestens
dann zu gehen, wenn die letzte Stunde des letzten
Abkömmlings der Linie P. gekommen sein wird?
Solidarität am Ende und jenseits eines gewaltsamen und
unumkehrbaren Extinktionsvorganges; vielleicht bringt das
wenigstens ein paar Nachkommen von der Täterseite zu
mehr Nachdenklichkeit. Nur mit einem Selbstopfer - ein
Mitbegleiten in der Auslöschung eines Stammes - kann man
denen, die grundlos so sehr gequält wurden, eindeutig
evident machen, dass das ja schon da ist, wonach sie sich
so sehr sehnen: nämlich dass sie wirklich geliebt und
angenommen sind. Nur weiß der Enttäuschte nicht, woher
er noch die Kraft nehmen soll für dieses Selbstopfer und
ob er sie jemals haben wird. Aber alleine schon die
Tatsache, dass in diese Richtung ernsthaft gedacht wurde,
kann für die Angehörigen der Opfer großen Trost
bedeuten. Mögen sie dem Enttäuschten verzeihen, wenn er
bei der Realisierung versagt, denn nur ganz wenige
Persönlichkeiten haben die seelische Kraft und
moralische Integrität eines Janusz Korczak (polnischer
Kinderarzt, Pädagoge und Schriftsteller *22.07.1878
08.1942 KZ Treblinka), der seine
Waisenhaus-Schützlinge nicht alleine ließ, als sie ins
Gas geschickt wurden.
Die Leser mögen bitte das, was der
Enttäuschte oben über die Verantwortliche und
Gleichgesinnte darlegte, nicht als Übertreibung oder
Hetze ansehen. Seine Erinnerungen schrieb er nach bestem
Wissen und Gewissen und beeidet sie hiermit;
Erinnerungstäuschungen können jedoch nicht
ausgeschlossen werden. Fest steht: hier ist aus den
profanen Beweggründen Habgier, Geiz und Neid viel zu
viel Unrecht entstanden, das nicht mehr verschwiegen
werden kann, ohne sich selbst der schweren Unterlassung
schuldig zu machen. Eingedenk der ganz besonderen
Verantwortung, die der Enttäuschte wegen der
Geschehnisse in der deutsch-jüdischen Vergangenheit hat,
entschloss er sich, dieses massive Versagen und seine
Folgen zu veröffentlichen, damit daraus gelernt werden
kann und sich somit die Wahrscheinlichkeit verringert,
dass Entsprechendes noch einmal geschieht. Der
Enttäuschte tat hiermit alles, damit auf solche Art
erworbenes unrechtes Gut nicht gedeihen kann; er hofft,
dass sich möglichst viele Leser, die vor einer
ähnlichen Situation stehen, dazu durchringen werden,
ebenso zu handeln wie der Enttäuschte und alles
zurückbringen. Denn es darf nicht sein, dass der
Überseekoffer ein ganz seltenes Beispiel jüdischen
Eigentums bleibt, das in München nach 1945 rückgeführt
worden ist an die rechtmäßigen Erben. Die Leserschaft
möge diese Ausführungen als Beitrag zur Versöhnung
zwischen dem jüdischen und dem deutschen Volk sehen.
Die Motive für die hier geäusserte
Haltung des Enttäuschten sind die ewigen Themen
Gerechtigkeit und Fairness, ohne deren Verwirklichung es
kein friedliches Beisammensein geben kann. Es war
zutiefst verwerflich, dass die Verantwortliche das
verwaiste Eigentum der Tuchhändlersfamilie nicht
freiwillig der 1947 wiedergegründeten Israelitischen
Kultusgemeinde zu München überbracht hat. Das
unterschlagene Gut muß den Eigentümern, deren Erben
oder - wenn es keine mehr gibt - der Gemeinde
zurückgegeben werden; erst dann besteht Aussicht auf
Frieden. Und je länger die Rückgabe hinausgezögert
wird, desto problematischer wird die Situation. Die
gleichgültige und träge Haltung Wer ko, der ko -
wer schiaßt, der schiaßt - wer rafft, der rafft -
und - wer hat, der hat -, ist unerträglich
töricht. Ein weiteres Motiv des Enttäuschten ist
Empathie und die damit verbundene tiefe Solidarität mit
Übergangenen, Benachteiligten, Beraubten und Ermordeten.
Der Enttäuschte kann aus seiner Lebenserfahrung und von
seinen Anlagen her verstehen und nachempfinden, was
diesen Menschen damals Entsetzliches angetan wurde: denn
er war in seiner Kindheit und Jugend zutiefst
verunsicherter Aussenseiter und Prügelknabe und weiß,
was es heißt, gemobbt, gehänselt, geschlagen,
schikaniert und ausgegrenzt zu werden und immer die Tür
gewiesen zu bekommen. Mehr.
Er weiß, was es heißt, wenn einem etwas vorenthalten
und genommen worden ist und wenn man nicht dabeisein
darf. Er hat erfahren, was es heißt, wenn man nicht mehr
weiß, wo es nach Hause geht und wenn man, sei es auch
nur in Gedanken, weit draussen vor der Tür in einen
schwarzen ewigen Abgrund stürzt. Und er meint, sich auch
das vorstellen zu können, wie es ist, wenn man nackt an
der Schwarzen Wand steht. Freilich ist sich der
Enttäuschte darüber vollkommen im Klaren, dass er nur
den Grundformen des Ausgegrenzt- und Verfolgtwerdens
ausgesetzt war.
Der Enttäuschte kann gar nicht anders, als sich diesen
Menschen, denen vorsätzlich solch grenzenloses Unrecht
angetan wurde, solidarisch zu zeigen, indem er denen
wenigstens ihr Eigentum, das ihnen genommen wurde,
zurückträgt, wann immer sich dazu Gelegenheit bietet.
Der Enttäuschte kann gar nicht anders als solche
Menschen, die grundlos so sehr gequält wurden, zu
schützen und zu lieben.
online seit 01.05.2006; letzte
Nachträge/Korrekturen 09.06.2009.
Dr. Hubert Engelbrecht
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