05.12.2019, 20.29 Uhr Zur Verantwortung der Geowissenschaftler im Anthropozän Sehr geehrte Frau Professor ... und sehr geehrte Herr Professor..., ich melde mich: weil ich davon ausgehe, dass Sie zu den Programmgestaltern des Kolloquiums zählen; und wegen des großen Themas Geowissenschaftler und ihre Verantwortung im Anthropozän. Prinzipiell finde ich es richtig, dass im Kolloquium Vorträge angeboten werden, die einen Bezug zu vergangenen und aktuellen Umwelten und Klimaten haben; schon deshalb, weil diese Vorträge in einer akademischen Einrichtung gehalten werden, in deren Titel der Begriff Umwelt genannt ist. Seit dem WS 2010/2011 fand ich in den Semesterprogrammen des Kolloquiums von insgesamt 177 Vorträgen 33 Vorträge, die einen Bezug zum aktuellen Umwelt- und Klimageschehen hatten; Nun frage ich, ob dieser Anteil (18,6%) genügt angesichts der aktuellen Umwelt- und Klimaproblematik. Das EU-Parlament hat am 28.11.2019 den Klima- und Umweltnotstand ausgerufen. Seit Jahren sind viele Wissenschaftler fast aller Disziplinen in Sorge. Ich meine, dass die Geowissenschaftler wegen ihrer tiefer gehenden Kenntnisse des Erdsystems (e. g. Umwelt- und Klimageschichte) und spezifischen Tätigkeiten (e. g. Rohstoffsektor, Baugrund- und Deponiewesen) eine größere Verantwortung betreffend die aktuelle Problematik tragen. Das will ich weiter ausführend wie folgt begründen: 1- Geowissenschaftler befassen sich mit Werdegang, Zusammensetzung und Zustand der Erde sowie mit Prognosen über ihre zukünftige Entwicklung. Die Sedimentologen, Stratigraphen, Paläoöko- und Paläoklimatologen stehen für Kompetenz betreffend Entstehung, Wirkungen und Veränderungen der Materialflüsse des Erdsystems bzw. den Wechselwirkungen zwischen ihnen; Geophysiker sind kompetent betreffend die Energieflüsse im Erdsystem. Fachkräfte rekonstruierten anhand von Daten aus Sedimentarchiven, welche Vorgänge/Ereignisse das Klima beeinflusst und Ökosysteme verändert haben; und wie lange es dauerte, bis sich das Erdsystem wieder stabilisiert hatte. Mit diesen Ergebnissen können auch die Folgen des aktuellen Klima- und Umweltgeschehens besser verstanden werden. 2- Es sind Geowissenschaftler, die den Hauptteil des Materials, das der Mensch in wachsenden Mengen zum Leben braucht, in der Erdkruste lokalisieren, damit es anschließend aus ihr zwecks Bedarfsdeckung extrahiert werden kann. Fachkräfte wie Lagerstättenprospektoren, Geochemiker, -physiker, -techniker, Montan- und Wirtschaftgeologen wissen, welche mineralischen Rohstoffe wo und wie am günstigsten gefördert werden können. Alle weiteren Stoffe (e. g. Sauerstoff, Wasser, Biomasse), die der Mensch braucht, kommen ohne Boden/Gestein nicht aus. Der Geowissenschaftler Herr Professor Jan Zalasiewicz hat in seinem Vortrag am 21.11.2019 anlässlich des 10-jährigen Bestehens des Rachel Carson Centers München den globalen Rohstoffumsatz im Jahr 2015 mit 316 GT beziffert. Das ist umgerechnet ein Granitwürfel mit Kantenlänge 4,9 km. Diese Menge ist ca. 24 mal mehr als die Summe der jährlichen Deltaschüttungen an allen großen Flussmündungen (https://doi.org/10.1177%2F2053019618800234). Ein anthropogener Materialumsatz, der sich zu dieser bemerkenswerten Größe entwickelt hat, ist die Ursache der festgestellten bedeutenden Veränderungen der Material- und Energieflüsse des Erdsystems: Weil bei Lokalisierung und Abbau der Rohstoffe, ihrer Veredelung zu Produkten und deren Anwendung und Entsorgung große Mengen an Schadstoffen emittiert wurden, für die weder ausreichend natürliche Senken bestanden noch vorab vorsorglich genügend künstliche durch deponietechnische Maßnahmen geschaffen worden sind. So steht ausser Frage, dass seit Beginn der Industrialisierung die natürlichen Material- und Energieflüsse des Erdsystems durch den Menschen wesentlich verändert und labilisiert wurden. Geowissenschaftler wirken maßgeblich gestaltend bei den Initialisierungen von Lagerstätten- und Rohstoffzyklen, steuern und betreuen intensiv ihre weitere Entwicklung und managen ihr Ende (Lagerstättenschließung, Renaturierung) sowie das von Produktzyklen (Bauwesen, Deponie- und Endlagertechnik). Wegen des gestalterischen Potentials von Geowissenschaftlern betreffend die globalen Rohstoff- und Lagerstättenzyklen sowie die Geotechnik (Deponie, Baugrund, Endlager) resultiert für sie ein größeres Maß an Verantwortung im aktuellen Umwelt- und Klimageschehen. Aus diesem spezifischen Expertenwissen über die natürlichen Stoff- und Energieströme im Erdsystem und wegen ihrer Involviertheit und ihres Wirkungspotentials in den Rohstoff- und Lagerstättenzyklen, im Baugrundwesen und in der Deponietechnik erwächst den Geowissenschaftlern zwangsläufig Verantwortung, die m. E. das normale Maß übersteigt. Ähnliches steht in den Mainzer Thesen 2004 (Zitat: Thiede, J., Eißmann, L.; Emmermann, R. et al. Geowissenschaften und die Zukunft. Wissensbasierte Vorhersagen, Warnungen, Herausforderungen. Beiträge des interakademischen Symposions, 3.-5.September 2003, Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Abhandlungen der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Klasse, Jahrgang 2004, Nr. 2, Mainz, Franz Steiner Verlag, Stuttgart). Weil der momentane Zustand der anthropogenen Stoff- und Energiekreisläufe von sehr vielen Wissenschaftlern als schädlich in vielerlei Hinsicht, riskant und nicht nachhaltig gesehen wird, haben Geowissenschaftler deshalb gesellschaftliche und moralische Verantwortung, darauf hinzuwirken, dass diese veränderten Kreisläufe kontrolliert, reguliert und schließlich wieder normalisiert werden. Vielleicht können Sie verstehen, warum ich anregen möchte darüber nachzudenken, ob das Programm des Kolloquiums der Verantwortung der .... Geowissenschaftlichen Fakultät im aktuellen globalen Umwelt- und Klimageschehen zur Genüge nachkommt. Meine Anregung: Würde man den Anteil von Themen mit aktuellem Umwelt- und Klimabezug im Programm des Kolloquiums auf ca. ein Drittel erhöhen, dann würden sich Studenten und Nachwuchswissenschaftler evtl. noch mehr mit ihrer zukünftigen Verantwortung auseinandersetzen. Mit freundlichen Grüßen Hubert Engelbrecht |